Dieser Ich-Erzähler dringt tief ins Gefühlsgewebe Ihrer Leserinnen ein und löst auch hartnäckige Gleichgültigkeitskrusten.
Wenn Sie heitere Frauenromane lesen oder schreiben, sind Sie dieser Erzählperspektive garantiert schon begegnet: Ich-Präsens. So einfach und intuitiv bedienbar sie auch daher kommt, so trickreich sind ihre Herausforderungen zu meistern. Im ersten Teil meines Expertentipps habe ich bereits die auktoriale Ich-Perspektive behandelt, gehen wir weiter zum personalen Ich-Erzähler.
Es kommt mir fast merkwürdig vor, dass es je eine Zeit gab, in der ich kräftig genug war, solche botanischen Wertstücke zusammenzutragen. In die steilen Hänge der Alpen habe ich mich abgeseilt, habe mich durch die unwegsamen Urwälder Amazoniens gekämpft, auf der Suche nach den seltensten Gewächsen.
Heute kann ich sie nur noch ansehen.
Dolorma Dormiens. Meine Schönste. Sie ist schon ein wenig blass geworden, jeder Experte würde mir raten, sie nicht täglich der UV-Strahlung auszusetzen, aber was wären meine Tage, wenn ich nicht wenigstens einmal ihren Anblick genießen dürfte? Das zarte Blau ihrer Blütenblätter, mit einem Stich ins Violette wie eine alte Fotografie. Die filigranen Staubgefäße. Die transparenten, vielfingrigen Blätter.
Es gibt nur noch eine solche Blüte auf der Welt, und sie gehört mir.
Vorsichtig schlage ich das Album auf. Meine Finger fühlen schon nach dem dünnen Seidenpapier, und ich meine, nicht recht zu sehen: nur heller Karton darunter. Das Zittern kommt mit Macht. Wo ist meine Blume? Endlich habe ich das Seidenpapier aus dem Weg, aber darunter ist nichts, eine leere Seite, nur meine Handschrift verrät, was hier fehlt: Dolorma Dormiens, gefunden in Kenia, den 28. April 1963.
Ich sitze, ich weiß nicht, wie ich zu meinem Stuhl gekommen bin. Mein Stock klappert gegen den Tisch. Draußen fährt eine Straßenbahn vorbei. Das macht sie jeden Tag, nur ist heute nicht jeder Tag. Heute ist der Tag, an dem meine Welt aus den Fugen gerät.
Die personale Ich-Perspektive simuliert eine Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen. Der Ich-Erzähler kann nicht in die Zukunft sehen. Dinge aus der Vergangenheit weiß er nur, wenn sie seinem Erfahrungshorizont entsprechen (wenn er sie erlebt oder erzählt bekommen hat). Die inhaltliche Ebene fällt also fast völlig aus, wenn es darum geht, der Erzählerfigur Charisma zu verleihen.
Wir sind zurückgeworfen auf die sprachliche Ebene. Die immerhin hat zwei Stockwerke: das, was die Figur erlebt, und das, was die Figur denkt. Je umfangreicher die „Denkebene“, desto introvertierter wirkt Ihre Figur. Und das ist oftmals nicht mal gewollt: Immer wieder begegnen mir in Romanen epische Denkpassagen, die nur geschrieben wurden, weil die Autorin sich ihrer Figur emotional annähern will oder gerne mit ihr zusammen ist oder das, was die Figur denkt, spannender findet als das, was die Figur erlebt. Problem: Mit dieser Einschätzung ist die Autorin meist allein.
Ich warne davor, die Denkebene zu überfrachten und die Handlungsebene zu vernachlässigen. Passiert das, driftet die Erzählung in eine Art „stream of consciousness“ – also das „Belauschen“ von Gedanken, während sie gedacht werden – und das ist auf Dauer ziemlich eintönig.
Die Handlungsebene kennt nur eine Richtung: vorwärts. Wird der personale Ich-Erzähler von Ereignis zu Ereignis gespült, ohne groß nach vorne oder zurück schauen zu müssen, kann durch diese Perspektive eine unterhaltsame Leichtigkeit, ein „Hier-und-Jetzt-Gefühl“ aufkommen. Und damit ist „Ich-Präsens“ nur bedingt geeignet für knurrige Blumensammler. Ich würde mir schwer tun, ein ganzes Buch mit ihm als Helden aus dieser Perspektive zu schreiben – die fluffige Leichtigkeit, die sie vermittelt, passt einfach nicht zum Protagonisten.
Diese Erzählweise ist mit Sicherheit diejenige, die Silke für ihre Liebesromane auswählt. Dort passt sie ganz hervorragend und vermittelt das Gefühl von Tempo, Spontaneität, Temperament und Ereignisreichtum. Und damit ist auch geklärt, warum diese Erzählweise sich im heiteren Liebesroman solcher Beliebtheit erfreut: nicht weil eine Autorin es der anderen nachmacht, sondern weil es für diese typischen „Chick-Lit-Stoffe“ einfach eine gute Wahl ist.
Letztlich gibt es keine richtige oder falsche Erzählperspektive – es gibt nur eine geeignete oder eine unpassende. Und wenn Sie die geeignete gefunden haben, reizen Sie sie aus und behalten dabei im Kopf: Sie und Ihre Erzählerfigur sind im Idealfall ein gutes Team – aber Sie sind nicht die gleiche Person.
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