Zum Verwechseln ähnlich!
Silke, 43, ist Autorin von Liebesromanen. Sie schreibt als Ich-Erzähler, also in der aktuell sehr beliebten Ich-Präsens-Perspektive, in der gefühlt alle erfolgreichen Liebesromane verfasst sind. Verkehrt ist das nicht; die Perspektive ist unmittelbar, erzeugt Tempo und Nähe und erreicht Mitgefühlssensoren bei der Leserin, an die auktoriales Erzählen in der dritten Person nicht drankommt. Silkes Romanheldin ist Sabine, 23. Wie Silke ist sie im Brotberuf Steuerfachangestellte, träumt aber von einer Reise um die Welt in einem Fesselballon, mit dem Traumprinzen an der Seite. Wie Silke.
Unterschied: Während Sabine schließlich mit ihrem großen, gut aussehenden romantic interest in den Sonnenuntergang schwebt, sortiert Silke im flackernden Licht der Tagesschau Socken. Und überlegt sich das Handlungsgerüst für ihren nächsten Roman. Ramona, 24, von Beruf Steuerf… äh, hatten wir schon, hm, von Beruf Bürokauffrau, träumt von einem eigenen Reiterhof und …
Jede Wette, dass Ramona als Ich-Erzählerin sich genauso „anhören“ wird wie Sabine. Weil beide sich so anhören wie Silke.
Nun gilt: Sich ewig wiederholende Literatur tut niemandem weh. Solange Silke Spaß daran hat, immer neue Klone ihrer selbst in virtuelle Abenteuer starten zu lassen, und solange es da draußen Leserinnen gibt, die sie damit glücklich macht, ist alles gut. Aber wenn Silke jemals den Schritt zu mehr künstlerischer Vielfalt machen will, kommt sie nicht umhin, ihr Ich-Erzählen zu verfeinern.
Ich-Erzähler/innen sind so viel mehr als nur literarisierte Formen ihrer Erschaffer/innen. Als Leserin muss ich die Eigenheiten der Erzählerfigur spüren, muss sie als eigenständige Person wahrnehmen können. Als Autorin muss ich mir im Klaren sein, wer diese Geschichte erzählt – denn das bin nicht ich.
Wie hoch ist die Besserwissertoleranz Ihrer Leser/innen?
Der Tag, an dem meine Welt in sich zusammenfiel, begann ganz normal: Ich vergaß, meine Tabletten zu nehmen. Ich zittere nämlich, müssen Sie wissen. Zumindest wenn ich meine Tabletten nicht nehme. Eine Krankheit für alte Leute. Ich habe nicht darum gebeten, so alt zu werden, aber auf mich hört ja keiner.
Ich hatte also an diesem Tag ohne Appetit gefrühstückt – zwei Scheiben Knäckebrot, zwei Esslöffel Frischkäse, eine Tasse Kaffee – wie immer, die Putzfrau kauft mir ein und sie bringt mir immer das Gleiche, weil ich immer vergesse, ihr zu sagen, wie gerne ich Orangenmarmelade mag – also, ich hatte gefrühstückt und holte aus der langen Reihe meiner Alben das heraus, das ich jeden Tag einmal aufschlage.
Dolorma Dormiens. Kennen Sie nicht? Macht nichts. Kaum einer kennt sie. Es gibt keinen botanischen Garten, in dem sie wächst, und vermutlich nur ein einziges Album auf der ganzen Welt, das ein getrocknetes Exemplar von ihr enthält. Meines.
Ja, ich habe sie getrocknet. Blumen verblühen, wenn man sie nicht trocknet, das weiß doch jeder. (…)
Das geübte Auge erkennt den auktorialen Ich-Erzähler. Die Geschehnisse, über die er uns berichten will, sind zum Zeitpunkt des Erzählens schon abgeschlossen. Scheinbar hat er es überlebt, oder er ist ein gesprächiger Geist. Um einem auktorialen Ich-Erzähler Charisma zu verpassen, haben Sie mehrere Möglichkeiten.
- Auf der sprachlichen Ebene: Hier zeigen Sie unmittelbar, wie Ihr Erzähler tickt. Welchen Bildungsgrad besitzt er? Wie steht es um seinen Wortschatz? Mein Blumensammler würde vermutlich „Schockschwerenot!“ fluchen, wenn überhaupt, und nicht „Fuck, Alter!“. Er würde „Geht in Ordnung“ sagen und nicht „Okay“.
Mein Blumensammler plaudert gerne. Wir haben nicht nach den Frühstücksgewohnheiten gefragt, er beglückt uns trotzdem damit. Mit der Handlung haben sie nichts zu tun, aber sie tun etwas für die Figur: Sie charakterisieren ihn als regen, aber etwas einsamen Geist, der vom eigentlichen Roten Faden gerne mal zur Seite raus mäandert. Ein bisschen besserwisserisch kommt er auch rüber: Das liegt nicht nur an seiner Persönlichkeit, sondern auch an der Erzählform – er weiß es schließlich wirklich besser.
Achten Sie auf den Satzbau. Lange, verschachtelte Sätze sind was für Erzähler, die stolz auf ihre Bildung sind. Auch die Erzählhaltung spiegelt sich. Diesen Stil müssen Sie über den ganzen Text hinweg durchhalten, dafür ist es wichtig, dass Sie sich damit wohlfühlen und diese Schreibweise nicht als Fremdkörper empfinden. Mit ein bisschen Übung kann man sich einen bestimmten Duktus angewöhnen. Beim Schreiben hilft es, immer mal die älteren Textstellen querzulesen – so bringen Sie sich selbst wieder in die Spur. - Auf der inhaltlichen Ebene: Der auktoriale Ich-Erzähler kann sich frei in seiner Handlung bewegen. Er kann vor- und zurückspringen, kann Informationen beisteuern, die er zum Zeitpunkt des Geschehens noch nicht hatte, und kann damit den Leser zum „Mitwisser“ machen. Er kann sogar auf Ereignisse Bezug nehmen, bei denen er selbst gar nicht zugegen war, wenn er glaubhaft erklären kann, woher er die entsprechenden Informationen später bezogen hat (dieser Trick steht und fällt mit „glaubhaft“).
Diese Freiheit der Erzählreihenfolge ist das größte Potenzial dieser Erzählform, und Sie sollten es nutzen. Wenn Sie das Gefühl haben, Ihre Leser damit nicht glücklich zu machen, wählen Sie eine andere Erzählform – Sie stellen sich ja auch nicht den Bugatti in die Garage, um damit die Kinder durchs Wohngebiet zu kutschieren. Voraussetzung ist ein Erzähler, dem es Spaß macht, seine Geschichte verschränkt zu erzählen. Einer mit Spieltrieb, mit der Lust daran, den Leser auf die Folter zu spannen. Wenn Ihre Erzählerfigur das nicht hergibt, entscheiden Sie sich lieber für eine andere Erzählform.
Im zweiten Teil meines Artikels zum Ich-Erzähler erfahren Sie, wie Sie die Persönlichkeit eines personalen Erzählers strahlen lassen.
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