Romananfänge

Romananfänge – Wie angeln Sie sich Ihre Leser?

Elsa Rieger ist Lektorin, Autorin und Coach. Ihre Leidenschaft gilt der Struktur in Texten und so deklariert sie es auch auf ihrer Webseite: „In einer Kurzgeschichte zählt der Moment, im Sachbuch Genauigkeit und Logik in den einzelnen Abschnitten und im Roman eine innere Ordnung des Ablaufs der Ereignisse und die Mehrdimensionalität der Charaktere.“ Wir haben Sie eingeladen, einen Beitrag über den wichtigsten und oft schwierigsten Teil eines Werkes zu schreiben: Die Romananfänge.

Ich denke, wir sind uns einig, dass es grandiose Romananfänge in der Weltliteratur gibt. Der Anfang und da der erste Satz ist der „Hook“ – der Angelhaken, mit dem der geschätzte Leser gefangen wird und er unbedingt wissen will, wie es weiter geht. Den auszuwerfen, ist Kunst. Doch was macht einen ersten Satz zu einem Haken, an dem Ihre Leser zappeln werden? Dies versuche ich an zwei Anfängen zu erarbeiten.

Gerühmte Romananfänge können Sie nachlesen bei Tolstois Anna Karenina, Melvilles Moby Dick, Grass‘ Der Butt und vielen anderen großen Schriftstellern. Am ersten Beispiel eines meiner Lieblingsanfänge möchte ich Ihnen gern nahebringen, warum erste Sätze Hammer sein sollten, Neugier erwecken müssen und bloß nicht ausufern dürfen.

„Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuß der Ngong Berge.“

So eröffnet Tania (Karen) Blixen ihren autobiografischen Roman: Afrika, dunkel lockende Welt – vielen besser bekannt unter dem Titel „Jenseits von Afrika“, wie er auch als Film heißt.

Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuß der Ngong Berge – ein klarer Satz, wunderbar, mit so viel Inhalt! Warum?
Es ist ein ganz einfacher Satz; er besteht aus Subjekt, Prädikat, Objekt mit Verortung. Punkt – Aus.
Aber!!! Was kann ein so simpler Satz alles beinhalten! In hohem Maß regt er – eben durch seine Schlichtheit – die Fantasie der Leserschaft an:

Ich – Wer „ich“? Mann oder Frau?
Ich hatte – Aha, jetzt also nicht mehr. Was ist passiert?
Ich hatte eine Farm – Okay, Farmen sind eher exotisch für unsere Breiten. Farmen produzieren. Was wird dort angebaut, gezüchtet?
Ich hatte eine Farm in Afrika – Oh! Wow, Afrika! Vorm inneren Auge der Leser steigen Bilder auf: Löwen! Gazellen, grelle Sonne, Staub, Menschen in bunten Gewändern, Musik, Savanne, Affenbrotbäume etc.. Eine Frage bleibt, die wir nur durchs Weiterlesen klären können: Wo in Afrika?
Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuß der Ngong Berge. – Ah ja? In Geografie Bewanderte wissen das, viele vermutlich nicht (also ich wusste es nicht), jedoch wird allen ein Bild aufsteigen vom Fuß der Irgendwie-Berge. Es regt die Vorstellungskraft durchaus an: Hohe schneebedeckte Gipfel oben, Hitze unten – so in der Art des bekannten Kilimandscharo – ein tolles Bild!

Wenn das kein „Hook“ ist, dann weiß ich auch nicht.
Ein kurzer Satz mit genauer Beschreibung der Situation, herrlich. Aber Achtung, die Betonung liegt auf „genau“!
Ein Satz wie: „Eine rote Blume leuchtete ihr entgegen.“, der ist ungenau. Jeder stellt sich eine andere Blumenart vor, ein anderes Rot. Dem einen fällt die Rose ein, dem anderen die Tulpe, das ist, mit Verlaub, zu wenig. Die Wirkung entsteht durch die Genauigkeit.

 

Hier spreche ich noch einen Anfang an, aus einem Fantasyroman für Jugendliche, die Autorin Bea Hiu hat ihn mir zur Verfügung gestellt:

„Leeza starrte entsetzt auf die Stelle, wo eben noch das Portal gewesen war, durch das sie und ihre Freundin Jizahan aus der Welt Kysano hierhergekommen waren.“

Sofort ist mir klar, dass es Fantasy sein muss – Welt Kysano.
Ich sehe auch, dass es sich um zwei Personen handelt, Leeza dürfte auch ein Frauenname sein, also zwei Frauen, die gerade ein schwerwiegendes Problem haben dürften.
Das geheimnisvolle Portal ist irgendwie abhanden gekommen, wahrscheinlich gibt es kein Zurück in die eigene Welt, aus der die beiden hier (wo, wird sich zeigen) gelandet sind.
Ein Satz, so knapp wie möglich, der die Leser gleich mit der Situation konfrontiert. Gut gemacht, denn ich will jetzt wissen, wie es weitergeht.

Probieren Sie es, viel Spaß mit Ihrem 1. Satz.

Merke: „Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will.“ William Faulkner

 

Welchen Anfang haben Sie für Ihr Werk gewählt? Oder welchen ersten Satz finden Sie besonders gelungen? Ich freue mich auf Ihre Kommentare. 
Romananfänge sind nur die Spitze des Eisbergs. Wie geht es dann weiter? Das erarbeite ich mit Ihnen bei meinem Workshop im November: ein Autoren-Camp im Herzen Wiens.

 

GastautorIn
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One thought on “Romananfänge – Wie angeln Sie sich Ihre Leser?

  1. Der erste Band meiner Debüt-Trilogie in progress beginnt mit folgendem Satz:

    „Ich hatte es kommen sehen, doch das machte es nicht im Geringsten besser zu ertragen.“

    Die ersten Sätze für Teil zwei und drei stehen auch schon, aber die werden natürlich noch nicht verraten… 😉

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